Wie lässt sich der Ressourcenverbrauch in Arztpraxen durch bessere Hygienevorgaben reduzieren?
Ein neues Gutachten des Fraunhofer ISI untersucht, wie sich in deutschen Arztpraxen der Ressourceneinsatz im Hygienebereich minimieren lässt. Im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wurden unter anderem bestehende Hygieneanforderungen der Bundesländer analysiert und ambulant tätige Ärzt:innen und medizinisches Fachpersonal befragt. Das Gutachten zeigt: Viele Vorgaben sind auf Krankenhäuser ausgerichtet und für den ambulanten Bereich weniger geeignet, was den Ressourcenverbrauch erhöhen kann. Empfehlungen im Rahmen des Gutachtens unterstreichen, wie sich Hygienevorgaben anpassen und nachhaltiger gestalten lassen – ohne Abstriche bei Patientensicherheit oder Arbeitsschutz.
Der Gesundheitssektor ist für jeweils rund 5 Prozent des Ressourcenverbrauchs und der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Während Nachhaltigkeits-Maßnahmen vor allem im stationären Bereich vorangetrieben werden, kommt dem Thema inzwischen auch in ambulanten Arztpraxen mehr Aufmerksamkeit zu. Aufgrund der verwendeten Chemikalien und Einwegprodukte sowie der Schlüsselrolle bei der Infektionsprävention, ist der Hygienebereich ein zunehmend wichtiges Handlungsfeld, das über ein großes Potenzial zur Ressourceneinsparung verfügt.
Im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) haben Forscherinnen des Fraunhofer ISI nun ein Gutachten erstellt, das Handlungsspielräume für Anpassungen der Hygieneanforderungen im vertragsärztlichen Bereich identifiziert. Ziel ist es, den Ressourcenverbrauch zu senken, ohne die Patientensicherheit oder den Arbeitsschutz zu gefährden. Das Gutachten basiert auf einem multimethodischen Ansatz, der Dokumentenanalysen, qualitative Inhaltsanalysen, Literaturrecherchen sowie eine Online-Befragung von 666 Ärzt:innen und medizinischen Fachangestellten umfasst. Ergänzt wurden die Ergebnisse durch Fokusgruppeninterviews und die Entwicklung praxisnaher Handlungsempfehlungen unter Einbezug von Expert:innen.
Erkenntnisse und Herausforderungen im Praxisalltag
Ein zentrales Ergebnis lautet: Die Hygieneanforderungen sind für den ambulanten Sektor oft zu weitreichend und beanspruchen übermäßig personelle und natürliche Ressourcen, insbesondere in konservativ tätigen Praxen wie zum Beispiel im hausärztlichen Bereich. Während Hygieneanforderungen etwa für Praxen, die ambulant operieren, oder Dialyseeinrichtungen in den Medizinhygieneverordnungen der Bundesländer geregelt sind, fehlen dort explizite Vorgaben für konservativ tätige Arztpraxen.
Die Analysen zeigen auch, dass es erhebliche Unterschiede in der Wahrnehmung und Umsetzung von Hygieneanforderungen gibt. Während 51 Prozent der Befragten die Anforderungen an den Hygieneplan, der von jeder Praxis erstellt werden muss, als angemessen bewerten, halten 44 Prozent sie für zu weitreichend. Darüber hinaus bestehen auch Herausforderungen bei der Umsetzung ressourcenschonender Maßnahmen, insbesondere in Bezug auf Einmalprodukte und Abfallentsorgung, oder hinsichtlich des unzureichenden Austausches zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen – etwa in Bezug auf multiresistente Infektionen.
Auch die baulichen Hygienevorgaben werden von der Mehrheit der Befragten als praxisfern und schwer umsetzbar bewertet. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Überwachung durch die Gesundheitsämter, die 46 Prozent der Befragten als zu weitreichend empfinden. Einige Befragte nennen hier etwa willkürliche Kontrollen und fehlende Standardisierung.
Handlungsempfehlungen für eine nachhaltigere Hygiene
Basierend auf den Ergebnissen formuliert das Gutachten konkrete Empfehlungen zur Verbesserung der Hygienepraktiken im ambulanten Sektor. Diese umfassen etwa:
- Klarere Hygienevorgaben und Empfehlungen: Entwicklung passfähiger Regelungen unter Einbindung des ambulanten Sektors, Überprüfung bestehender Empfehlungen auf Nachhaltigkeitsaspekte (wie z. B. der Länder oder der Kommission für Infektionsprävention in medizinischen Einrichtungen und in Einrichtungen und Unternehmen der Pflege und Eingliederungshilfe (KRINKO))
- Verbesserung des Hygienewissens: bestehende Informationsangebote ausweiten und an verschiedene Praxistypen anpassen, Stärkung der Eigenüberwachung in Praxen sowie der Hygieneausbildung im Medizinstudium, öffentliche Awareness-Kampagnen zur Ressourcenschonung durchführen
- Mehr Unterstützungsangebote und Anreize: Prüfung von Abrechnungs- und Erstattungsregularien auf Fehlanreize, Verankerung der Ressourcenschonung in Leitfäden, Checklisten und Hygieneplänen, finanzielle Unterstützung für kostspielige Maßnahmen prüfen, ökologisches Siegel für Arztpraxen fördern
- Medizinprodukthersteller stärker einbeziehen: Verpflichtende Beteiligung an Maßnahmen zur Ressourcenschonung, Informationen zum ökologischen Fußabdruck von Produkten bereitstellen
- Gezielte Forschungsförderung: Projekte mit hohem Potenzial zur Ressourcenschonung identifizieren und fördern
Dr. Tanja Bratan, die am Fraunhofer ISI das Geschäftsfeld Innovationen im Gesundheitssystem leitet und das Projekt im Auftrag der KBV koordinierte, zieht folgendes Fazit: »Das Gutachten des Fraunhofer ISI zeigt auf, dass die Besonderheiten des ambulanten Sektors bislang unzureichend in der Hygiene-Regulierung berücksichtigt werden. Gleichzeitig bietet es Impulse, wie durch gezielte Anpassungen Effizienzsteigerungen und Nachhaltigkeitsgewinne erzielt werden können – ohne dabei die Patient:innen oder die Mitarbeitenden zu gefährden.«
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