Kritische Stellungnahme zum wissenschaftlichen Artikel »What if Germany had invested in nuclear power« von Prof. Jan Emblemsvåg

von Prof. Dr. Martin Wietschel und Dr. Barbara Breitschopf (Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe), Prof. Dr. Mario Ragwitz und Dr. Benjamin Pfluger (Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG, Cottbus), Prof. Hans-Martin Henning (Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE, Freiburg) /

In einer von einem deutschen Medium aufgegriffenen Veröffentlichung wird folgende Schlussfolgerung gezogen: Wären im Jahr 2002 die politischen Rahmenbedingungen für Kernkraftwerke (KKW) in Deutschland positiv gewesen und wäre der Ausstieg aus der Kernkraft nicht umgesetzt worden, hätte das Land sowohl bei den Ausgaben als auch bei den Treibhausgasgasemissionen im Stromsektor besser abgeschnitten als mit der aktuellen Energiewende. Im Großen und Ganzen hätte eine alternative Politik, die bestehenden KKW im Jahr 2002 zu erhalten und neue KKW zu bauen, die Ausgaben halbiert und Deutschland hätte dabei seine Klimaziele gesichert.
Diese Aussage basiert auf einem Technologievergleich der Ausgaben für erneuerbare Energien im Vergleich zu einem hypothetischen Nichtausstiegsszenario aus der Kernkraft und einem Ausbau der KKW in Deutschland. Nach Meinung der Autoren dieser Stellungnahme basiert die zugrundeliegende Rechnung auf einem grundlegenden methodischen Fehler, durch welchen der Großteil der Ausgaben erneuerbarer Energien doppelt gezählt wird. Die durchgeführte Analyse ist somit wissenschaftlich nicht haltbar.

Was sind die Kernaussagen des Artikels und welcher methodische Ansatz wird dort verfolgt?

Im International Journal of Sustainable Energy hat Jan Emblemsvåg einen wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel »What if Germany had invested in nuclear power? A comparison between the German energy policy of investing in nuclear power« publiziert.1 In dem Artikel wird auf die Energiewende-Politik Deutschlands eingegangen, deren Ziel es ist, nukleare und fossile Energie durch erneuerbare Energien wie Wind-, Solar- und Bioenergie zu ersetzen. Die wesentliche Aussage des Artikels ist, dass Deutschland die Ausgaben für die Energiewende um etwa 600 Mrd. Euro reduziert hätte, wenn es statt eines beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien die Laufzeit für KKW verlängert hätte. Unter der Annahme, dass auch der Neubau von KKW erfolgt wäre, hätten die Ausgaben der Energiewende um 332 Mrd. Euro reduziert werden können. Deutschland hätte also eine Energiepolitik betreiben sollen, die auf der Beibehaltung und dem Ausbau der Kernkraft beruht.

Warum ist dieser methodische Ansatz nicht haltbar?

Der Autor bezeichnet seine Analyse als eine Cash-flow-basierte Analyse. Der Cash-Flow ist ein Begriff aus der Finanzwirtschaft, der den Nettofluss an Zahlungsmitteln beschreibt, der einem Unternehmen zur Verfügung steht. Er stellt die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben dar und ist somit eine wichtige Komponente bei der Bewertung der Finanzierung eines Unternehmens.  

Dabei betrachtet der Autor des Artikels nun zunächst die Ausgaben für Investitionen, Betrieb und Wartung der seit 2002 neu installierten erneuerbaren Erzeugungsanlagen. Diesen Ausgaben müssten in einer Cash-flow-Analyse nun Erlöse gegenüberstehen, die sich durch den Verkauf des erzeugten Stroms ergeben, d.h. Markterlöse und erhaltene Subventionen. Stattdessen addiert der Autor aber die Subventionen für die erneuerbaren Energien zu den Ausgaben (Zitat: “Essentially, the total expenditures of the Energiewende are the sum of the expenditures that the power plant owners have used (...) and the sum of the expenditures that society in addition have used to make the system work, i.e. subsidies, and subtracted any profits”1,2). Die in seinen Rechnungen wesentliche Förderung der Erneuerbaren ist die Einspeisevergütung, die die Besitzer erneuerbarer Anlagen erhalten (siehe Abbildung 4)1.

Um die Grundsätzlichkeit dieses Fehlers anhand eines einfachen Beispiels zu illustrieren: Nehmen wir an, ein Student kauft sich ein Auto und zahlt dafür monatliche Raten in Höhe von 300 Euro. Die Eltern unterstützen den Autokauf des Studenten mit 200 Euro im Monat. Emblemsvågs Logik folgend kostet das Auto nun monatlich 500 Euro.

In der Summe addiert Emblemsvåg nominal für den Zeitraum 2002 bis 2022 309 Mrd. Euro Subventionen für die Erneuerbaren zu den Ausgaben in Höhe von 387 Mrd. Euro, während er bei der Kernenergie nur die Ausgaben berücksichtigt (siehe3). Diese fehlerhafte Berechnung ist das Fundament seiner Aussage bezüglich der angeblichen Mehrausgaben der deutschen Energiewende. Diese beziffert er auf ca. 300 Mrd. Euro bei KKW-Laufzeitverlängerung und Neubau, bzw. 600 Mrd. Euro bei nur KKW-Laufzeitverlängerung.

Da die Betreiber erneuerbarer Erzeugungsanlagen und nicht die Stromverbraucher oder der Staat Gegenstand der Cash-flow-Analyse sind, ist dieses Vorgehen methodisch grundlegend falsch. Dies führt zu einer Doppelzählung der Ausgaben für die Energiewende. Die Endkonsumenten und der Staat haben den Großteil der Mehrkosten der erneuerbaren Energien getragen, entsprechend den Förderungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Aber diese EEG-Umlagezahlungen bzw. Staatsausgaben fallen außerhalb der betriebswirtschaftlichen Cash-flow-Rechnung an und stehen auf einer anderen Ebene, der volkswirtschaftlichen Ebene. Insgesamt wäre bei der vom Autor versuchten Analyse allein die Ebene der Ausgaben für die Energiewende zu berücksichtigen, ohne ihre Gegenfinanzierung wie z.B. in anderen Analysen4 aufgeführt.

Grundsätzlich sollten für eine monetäre Bewertung der Energiewende ohne/mit KKW vollständige Szenarien auf Basis der Gesamtsystemkosten verglichen werden, die sich auf einen klar abgegrenzten Bereich beziehen, z.B. das Energiesystem oder die gesamte Volkswirtschaft, wie dies in den Impact Assessments der Europäischen Kommission (siehe5) durchgeführt wurde. Dies erfordert die Berücksichtigung der gesamten Veränderungen bei Technologien und Kapazitäten unter Berücksichtigung aller anfallenden Kosten des Energiesystems, und nicht nur einen selektiven Technologievergleich zwischen einzelnen Zahlungsströmen für die erneuerbaren Energien und die Kernkraftwerke, wie dieser im Artikel vorgenommen wurde (siehe6).

In dieser Stellungnahme haben wir uns allein auf den grundlegenden methodischen Ansatz in der Analyse von Emblemsvåg konzentriert, ohne die verwendeten Daten und vorgenommenen Rechnungen im Detail zu prüfen. Allerdings zeigen sich auch im Hinblick auf die verwendeten Daten mögliche Fehler, z.B. scheinen die Investitionen für die Windenergie im Jahr 2002 deutlich (etwa um den Faktor vier) überschätzt zu sein (siehe Tabelle 2)1.  Aufgrund des prinzipiell falschen methodischen Vorgehens erscheint jedoch eine Detailanalyse der Daten nicht zielführend.

 

Anmerkungen und Quellen

  1. Emblemsvag, J. (2024): What if Germany had invested in nuclear power? A comparison between the German energy policy the last 20 years and an alternative policy of investing in nuclear power. International Journal of Sustainable Energy. Vol. 43, No. 1, 2355642.
  2. Staatliche Förderung der Kernenergie berücksichtigt der Autor nicht, obwohl sie je nach Quelle ebenfalls sehr signifikant ist. Über die staatliche Förderung der Erneuerbaren im Vergleich zur Kernkraft gibt es eine umfangreiche Literatur, siehe u.a. Deutscher Bundestag (2021): Strom aus Kernenergie: Kosten und Subventionen. Wissenschaftliche Dienste und Schrems, I.; Wieland, P. (2021): Gesellschaftliche Kosten von Kohlestrom sind heute bis zu dreimal so teuer wie Kosten von Strom aus erneuerbaren Energien. Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS). Nur in einem Punkt wird in dem Artikel die Förderung der KKW angesprochen, nämlich bei der Finanzierung der Anlagen. Der Bau von KKW ist sehr kapitalintensiv und durch lange Bauzeiten gekennzeichnet, was zu hohen Kapitalkosten führt. Dass dadurch die Wirtschaftlichkeit der KKW deutlich gemindert wird, wird zwar in dem Artikel thematisiert, aber dann nicht in der Berechnung einbezogen (siehe zur Rolle der Baukosten bei Kernkraftwerken Lazard (2024): LCOE Levelized cost of energy und World Nuclear Association (2023): Economics of Nuclear Power).
  3. An einer Stelle tätigt der Autor folgende Aussage “Obviously, some of the subsidies would cover direct expenditures and some would have resulted in profits, but we do not know how much” (siehe1). Er betrachtet allerdings nur jene Einzahlungen als Doppelzählung, die seiner Meinung nach alle Stromerzeuger (also Kernkraft und Erneuerbare) gleichermaßen betreffen und berücksichtigt sie deshalb nicht. Warum er dann aber die Förderung der erneuerbaren Energien zu den Ausgaben addiert, bleibt nicht nachvollziehbar. Zumal er an einer weiteren Stelle auch richtig schreibt, dass den Auszahlungen alle Einnahmen durch Stromverkauf und Förderung gegenüberstehen müssen und nicht addiert werden sollten, wie er es dann aber macht. Weiterhin wird klar, dass er bei der Kernkraft nur die Ausgaben berücksichtigt, er bei den Erneuerbaren Anlagen den Gewinn, den sie erzielen, ebenfalls als Auszahlungen ansieht, die ihnen negativ angelastet werden.
  4. IRENA and CEM (2014): ‘The socio-economic benefits of solar and wind: an econValue report’. Abu Dhabi 2014. Sowie: Breitschopf, B., Held, A. (2014) Guidelines for assessing costs and benefits of RET deployment, IEE DiaCore Project.
  5. SWD(2021) 621 final: Impact Assessment accompanying the Proposal for a Directive of the European Parliament and the Council amending Directive (EU) 2018/2001 of the European Parliament and of the Council,  Regulation (EU) 2018/1999 of the European Parliament and of the Council and Directive 98/70/EC of the European Parliament and of the Council  as regards the promotion of energy from renewable sources, and repealing Council Directive (EU) 2015/652.
  6. Eine derartige Systemanalyse auf Ausgabenbasis findet sich beispielsweise in Thellufsen, J.Z.; et al. (2024): Cost and system effects of nuclear power in carbon-neutral energy systems. Applied Energy, Volume 371, 1 October 2024, 123705.

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